Stadtwappen von Chemnitz          Chemnitz - im Wandel der Zeiten :: v.2.0 :: 01.10.09  
 
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Architektur, Kunst und Kultur

Höhepunkte Chemnitzer Architektur der Zwanziger Jahre

Firma Emden Söhne (H. u. O. Gerson, 1926)
Firma Emden Söhne (H. u. O. Gerson, 1926)
Cammann & Co (W. Schönefeld, 1926)
Cammann & Co (W. Schönefeld, 1926) Dresdner Bank (H. Straumer, 1924)
Dresdner Bank (H. Straumer, 1924) Deutsche Bank (E. Basarke, 1925)
Deutsche Bank (E. Basarke, 1925)
Industrieschule (F. Wagner-Poltrock, 1928)
Industrieschule (F. Wagner-Poltrock, 1928) Realgymnasium (E. Ebert, 1929)
Realgymnasium (E. Ebert, 1929) Hochhausentwurf (W. Schönefeld, 1926)
Hochhausentwurf (W. Schönefeld, 1926)
Kino "Roter Turm" (B. Kalitzki, 1929)
Kino "Roter Turm" (B. Kalitzki, 1929)
Treppe im Wohnhaus Max W. Feistels (1928)
Treppe im Wohnhaus Max W. Feistels (1928) Verwaltungsgebäude des Wasserwerkes (F.Otto, 1927)
Verwaltungsgebäude des Wasserwerkes (F.Otto, 1927)
Uhrturm der Fa. Schubert & Salzer (E. Basarke, 1927)
Uhrturm der Fa. Schubert & Salzer (E. Basarke, 1927)
Wohnanlage Wissmannhof (C. am Ende, 1927)
Wohnanlage Wissmannhof (C. am Ende, 1927)
AOK-Gebäude (C. am Ende, 1931)
AOK-Gebäude (C. am Ende, 1931)
  Quelle: Dr. Jens Kassner in seinem Vortrag zur Tagung der Sächsischen Akademie der Künste, Abteilung Baukunst, am 27./28. September 1996 in Chemnitz

  Buchtip: Chemnitz in den "Goldenen Zwanzigern"  Architektur und Stadtentwicklung, Jens Kassner, Verlag Heimatland Sachsen GmbH, 1. Auflage 2000, ISBN 3-910186-28-9

Die Themenwahl hat ihren Grund darin, daß m.E. die Zeit der Weimarer Republik der einzige Zeitabschnitt seit dem späten Mittelalter war, in dem sich die Chemnitzer Architektur auf der Höhe der Zeit befand und nicht hinterherlief. In meinem Referat möchte ich die Industriearchitektur ausklammern, obwohl es auch dort Bemerkenswertes gab. Aber darauf ist Tilo Richter bereits eingegangen. Weiterhin verzichte ich auf die Darstellung von Leistungen auswärtiger Architekten, so wichtig sie auch sein mögen. Aber über Straumer, Poelzig und die Gersons gibt es Monografien, Mendelsohns Kaufhaus Schocken ist sogar in jeder Standardliteratur zur Architektur des 20. Jahrhunderts vertreten. Die einheimischen Architekten hingegen sind überregional fast unbekannt, was aber nicht an minderer Qualität liegt.

Sicherlich gingen von Chemnitz keine spürbaren Impulse auf andere Städte und Regionen aus, abgesehen vom direkten Umland. Die hiesigen Architekten beobachteten aber genau die Vorgänge im nationalen und internationalen Baugeschehen. Es gab z.B. Reisen nach Wien, um den dortigen sozialen Wohnungsbau zu studieren. Zweifellos hätten auch Chemnitzer Architekten von selbst zum modernen Bauen gefunden, die Initialwirkung des Gerson-Baus ist aber belegbar, zumindest für Max W. Feistel und Fred Otto.

Otto kann man als den primus inter pares unter den modernen Chemnitzer Architekten bezeichnen, was auch mit der Stellung als Stadtbaurat zusammenhängt, die er 1925 innehatte. Gleichzeitig wurde die Baupolizei seiner Aufsicht untergeordnet, was er in seiner Rede zur Amtseinführung ausdrücklich würdigte. Seine ersten eigenen Bauten sind noch ganz traditionellen Architekturauffassungen verhaftet. Das Obdachlosenheim Altendorf und das Haus im Flußbad Altchemnitz lehnen sich noch an den Heimatstil an. Beim 1927 fertig gestellten Gebäude der Städtischen Wasserwerksverwaltung zeigt sich aber eine deutliche Wendung hin zur Moderne. Vom Gerson-Bau übernimmt er die klare Quaderform, die Klinkerfassade und die Anpassung eines Gebäudeteiles an die Nachbarbebauung. Die Krümmung der Front und die sanfte Störung der Symmetrie durch Versetzung des Eingangs sind aber eigene Zutaten, die schon auf sein Bestreben hindeuten, unverwechselbare Bauwerke für einen spezifischen Standort zu schaffen. Die nächsten Bauten gehören nicht zu seinen besten. Die Fleischgroßverkaufshalle am Schlachthof (1928) ist allzu monolithisch angelegt und die Nervenklinik im Zeißigwald (1928) erinnert mit ihren klassizistischen Anklängen daran, daß Otto ein Tessenow-Schüler war. Seine Meisterwerke sind aber das Stadtbad und die Sparkasse. Das Bad wurde 1927 begonnen, mußte dann infolge der Weltwirtschaftskrise rohbaufertig liegen bleiben und wurde erst 1935 unter Nutzung des Reichsarbeitsdienstes fertig gestellt. Es galt als das größte und modernste Hallenbad Deutschland oder gar Europas. Größe und architektonische Qualität sind tatsächlich bemerkenswert. Neben 50- und 25-Meter-Schwimmbecken gehören medizinische und Wannenbäder, Saunen, ein Luft- und Sonnenbad, eine Wäscherei und ein Wohnhaus zum umfangreichen Bauprogramm. Die Gestaltung des Baus ist bei bester Funktionalität auch ästhetisch anspruchsvoll gelöst. Gleiches kann man für die 1930 eingeweihte Städtische Sparkasse sagen, die auf schwierigem Terrain errichtet wurde. Das spitzwinklig zulaufende Grundstück ist nach zwei Seiten geneigt und liegt am Verkehrsknotenpunkt Falkeplatz, dem bis heute eine vernünftige städtebauliche Fassung fehlt. Otto machte aus der Situation das Beste, indem er einen turmartigen Baukörper an die Straßengabelung setzte, dem sich die zwei Flügel unterordnen. So entsteht ein optischer Fixpunkt, der etwas Beruhigung im umgebenden Chaos schafft. Erwähnt sei noch die Bornaer Volksschule, die Otto 1931 fertig stellte. Sie fällt weniger durch architektonische Raffinesse auf als durch ein damals neuartiges Konzept. Jeder der ebenerdig angeordneten quadratischen Klassenräume hat einen eigenen Garten zugeordnet. Auch das freibewegliche Mobiliar war ein Novum.

Mit einem Schulbau wurde auch Friedrich Wagner-Poltrock bekannt. Er gewann den Wettbewerb für die Chemnitzer Industrieschule, die zu dieser Zeit größte Berufsschule in Deutschland. Sein Entwurf ist ein Musterbeispiel des expressionistischen Bauens in Chemnitz, bei dem außerdem die Vorliebe des Architekten für mittelalterliche Ordensritterburgen und Kathedralen der norddeutschen Backsteingotik zum Tragen kommt. Dem Neuen Bauen kann man das Bauwerk natürlich nicht zurechnen, bemerkenswerte Architektur ist es aber auf jeden Fall. Auch für die Diesterwegschule im Gablenzer Neubaugebiet hatte Wagner-Poltrock den Wettbewerb gewonnen. Hier ist aber ein Wandel der Stilauffassung zu verzeichnen. Die Jury entschied sich für ein ausgesprochen modernes Bauwerk, was angesichts des Juryvorsitzes von Wilhelm Kreis nicht ganz schlüssig erscheint. Auffällig an dem Schulbau ist der hervorgehobene Saal mit den großen Fensterflächen. Im L-förmig angedockten Seitenflügel sind naturwissenschaftliche Spezialräume untergebracht, auf dem Dach befindet sich eine Freiluftklasse. Solch eine Terrasse für Unterricht im Freien gibt es bereits bei der Industrieschule. Rationalistisch gestaltet ist auch Wagner-Poltrocks Umspannwerk am Getreidemarkt von 1929. Gegenüber der Mittelalter-Romantik früher Bauten des Architekten ist hier eine Hinwendung zur Maschinen-Metaphorik zu bemerken.

Max W. Feistel hatte sich zunächst mit dem Bau von Wohnhöfen einen Namen gemacht. Beim Wartburghof und dem Terrassenhof sind moderne Gestaltungsabsichten aber noch vage formuliert. 1928 errichtete Feistel sein eigenes Wohnhaus am Kesselgarten als Versuchsbau für industrielle Typenfertigung. An das Stahlskelett wurden innen und außen Platten angeschraubt. Weniger radikal, aber trotzdem konsequent rationalistisch ist der von ihm errichtete Block an der Hoffmannstraße mit Großwohnungen. Zwei rechtwinklig zueinander stehende kubische Baukörper sind durch einen runden Fahrstuhlschacht verbunden.

Als weiterer wichtiger Architekt ist Bruno Kalitzki zu erwähnen, dessen wichtigster Bau aber im Kriege zerstört wurde, das 1929 vollendete Kino Roter Turm. Es passte sich in die durch den Abriß der alten Amtsfronfeste entstandene Baulücke der Herrenstraße ein. Durch den verwinkelten und engen Grundriss des Areals waren besondere planerische Tricks wie z.B. die Diagonalstellung des eiförmigen Kinosaals notwendig. Auch die Fassadengestaltung konnte nicht völlig frei erfolgen; die große Tordurchfahrt war eine Forderung der Feuerwehr. Der vollverglaste Lichtturm und die Front, deren einziger Schmuck die große Inschrift ist, waren aber Novitäten in Chemnitz. Ein weiterer Kinobau Kalitzkis, die im gleichen Jahr gebaute Schauburg an der Augustusburger Straße, wirkt dagegen eher unauffällig.

Es wäre noch eine Anzahl weiterer Chemnitzer Bauwerke zu nennen, die im Sinne des Neuen Bauens konzipiert wurden. Dafür reicht hier die Zeit nicht. Nicht unterschlagen kann man aber das AOK-Gebäude. Im Gesamtschaffen von Curt am Ende, der es 1930 nach seinem Wettbewerbssieg schuf, stellt es allerdings eine Ausnahme dar. Bei seinen vielen Wohnbauten ist er stärker dem Heimatstil verhaftet. Das AOK-Gebäude ist jedoch ein gutes Beispiel für die Verbindung von funktionaler Gestaltung und behutsamer Einfügung in die Umgebung. In unmittelbarer Nachbarschaft zur Schloßkirche verzichtete der Architekt auf eine Vertikalwirkung, ließ aber den halbrunden Vorbau mit dem Chor der Kirche korrespondieren. Die ursprünglich farbige Verglasung verstärkte diesen Effekt.

Nach diesem kurzen Überblick über wichtige Beispiele modernen Bauens in Chemnitz möchte ich versuchen, diese in die Entwicklung der Architektur jener Zeit in Deutschland einzuordnen.

1. Chemnitzer Architekten gehörten nicht zu den Pionieren der Moderne. Sie verfolgten aber aufmerksam, was auf diesem Gebiete passierte, und ließen sich davon inspirieren.

2. Zwischen 1926 und 1930 entstanden in Chemnitz eine Vielzahl von Bauwerken moderner Ausrichtung, deren Durchschnittsniveau beachtlich ist. Der Sog dieser Entwicklung veranlasste selbst konservativ eingestellte Architekten wie Basarke, am Ende und Marquard, sich in der neuen Stilistik zu erproben.

3. Eine der Erklärungen für diese schnelle Verbreitung moderner Ideen ist in der Besetzung des Stadtbaurat-Amtes zu suchen. Fred Otto war nicht nur selbst ein hervorragender Architekt und Stadtplaner, sondern förderte mit den ihm zur Verfügung stehenden administrativen Mitteln den Umbruch im Bauen und nutzte die Verbindung seines Amtes mit der Baupolizei-Aufsicht als Kontrollinstrument für Privatbauten.

4. Ein gemeinsames Merkmal vieler moderner Bauwerke in Chemnitz ist die Achtung des natürlichen und geplanten Umfeldes und die Anpassung an dieses. Im Unterschied zu radikalen Architekten und Theoretikern dieser Zeit wie etwa Mies van der Rohe oder Le Corbusier wurde keine absolute Negierung früherer Bauten angestrebt. Häufig integrierte man vorhandenen Altbauten sogar in neue Komplexe. Das ist u.a. bei Ottos Sparkasse und dem Stadtbad sichtbar. Auch in der Übernahme von Traufhöhen und Fluchtlinien äußert sich diese bewusste Anpassung. Und sogar beim heiß umstrittenen Thema der Dachform. Schon bei Gersons Emden-Gebäude übernehmen die Seitenflügel das Satteldach der Nachbarbebauung. Gleiches ist bei Ottos Wasserwerksverwaltung zu finden wie auch bei seiner Erweiterung der Markersdorfer Schule. Auf die Korrespondenz des AOK-Gebäudes von Curt am Ende mit der Schloßkirche wurde bereits verwiesen.

5. Die besten Beispiele rationalistischen wie auch expressionistischen Bauens in Chemnitz sind durch das Bestreben gekennzeichnet, bei aller Sachlichkeit Monotonie zu vermeiden. Als wichtiges Mittel dazu dient die Baumassengliederung, die häufig zur Rhythmisierung der Gesamterscheinung beiträgt. Das wird beim Stadtbad besonders deutlich, wo sich eine Vielzahl von Kuben durchdringt. Aber auch bei der Sparkasse mit den abgewinkelten Baukörpern und deren Höhenstaffelung wird es deutlich, wie auch bei der Industrieschule und der Diesterwegschule. Auffällig ist weiterhin die Vielfalt der Fensterformen und -größen bei den genannten Gebäuden. Das Gleiche trifft auch auf Willy Schönefelds Industriebauten für Cammann und Astra zu.

6. Bauten, die sich der sogenannten "weißen Moderne" zuordnen lassen, wofür die Stuttgarter Weißenhofsiedlung als Exempel steht, sind in Chemnitz selten. Die Diesterwegschule mag sich hier einordnen lassen, eventuell auch Feistels Wohnhaus. Ansonsten aber herrscht Vielfalt bei der Oberflächengestaltung vor. Zunächst dominierten unter dem Einfluss des Expressionismus noch Klinkerfassaden. In Chemnitz läßt sich diese Häufung auch durch die Vorbildwirkung des Gerson-Baus sowie durch das Wirken des Weichselländers Wagner-Poltrock erklären. In den späten Zwanzigern ist aber eine breite Palette von Materialien anzutreffen. Sie reicht von Rillenputz (Cammann) über Farbputz (Stadtbad, Fernmeldezentrale, Astra) bis zu Travertin (Sparkasse) und Porphyr (AOK), der hier übrigens erstmals zur kompletten Fassadenverkleidung angewandt wurde.

Zusammenfassend läßt sich sagen, daß das Neue Bauen in Chemnitz eine beachtliche Qualität und Breite hatte, auch wenn es in der Architekturgeschichtsschreibung bisher kaum Beachtung fand. Dass sich Unterschiede zum mainstream der Moderne feststellen lassen, spricht nicht gegen die architektonische Güte. Eine nähere Beschäftigung mit dem Thema trägt eher dazu bei, die Vielfalt der progressiven Architekturströmungen in den Zwanzigern hervorzuheben und das Bild zu korrigieren, nach dem das Neue Bauen eingleisig in den International Style eingemündet habe.

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 Stand: 2.0     04.01.10
 © 2003-2010 Hellwig