Chemnitz - im Wandel der Zeiten :: v.2.0 :: 01.10.09  
 
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Architektur, Kunst und Kultur

Der Bautyp "Höhere Schule" in der Chemnitzer Architekturgeschichte

Quelle: Dr. Jens Kassner in seinem Beitrag für die Publikation "Aus 600 Jahren Chemnitzer Schulgeschichte", herausgegeben vom Schulförderungsverein des früheren Staatsgymnasium Chemnitz e.V. 1999

Realgymnasium Reitbahnstraße
Realgymnasium Reitbahnstraße
III. Bezirksschule von 1874 am Bernsbachplatz
III. Bezirksschule von 1874 am Bernsbachplatz

Königliches Gymnasium Hohe Straße
Königliches Gymnasium Hohe StraßeSchule and der Freigutstraße um 1916
Schule and der Freigutstraße um 1916Höhere Töchterschule Annenstraße
Höhere Töchterschule AnnenstraßeHöhere Knabenschule Dresdner Straße
Höhere Knabenschule Dresdner Straße
Städtische Realschule Wielandstraße
Städtische Realschule Wielandstraße
Technische Staatslehranstalten Mittelteil 1926
Technische Staatslehranstalten Mittelteil 1926
Technische Staatslehranstalten am Schillerplatz, Aufnahme um 1939 damals Platz der Alten Garde 6/7
Technische Staatslehranstalten am Schillerplatz, Aufnahme um 1939 damals Platz der Alten Garde 6/7Höhere Mädchenbildungsanstalt Reichsstraße
Höhere Mädchenbildungsanstalt Reichsstraße
Fachschule 1926
Fachschule 1926Andregymnasium auf dem Kaßberg
Andregymnasium auf dem KaßbergAndregymnasium um 1920 im Hintergrund
Andregymnasium um 1920 im Hintergrund
Reformgymnasium Schloßstraße
Reformgymnasium Schloßstraße
Reformgymnasium um 1930
Reformgymnasium um 1930
Realgymnasium am früheren Johannisfriedhof
Realgymnasium am früheren Johannisfriedhof
Industrieschule am früheren Johannisfriedhof (später Karl-Marx-Platz, dann Schlageterplatz und heuet Platz der Opfer des Faschismus)
Industrieschule
am früheren Johannisfriedhof (später Karl-Marx-Platz, dann Schlageterplatz und heuet Platz der Opfer des Faschismus) Industrieschule - Haupteingang
Industrieschule - Haupteingang
Eine Unterscheidung der Schulen in der Stadt in allgemeine (Volks-) Schulen und solche mit höherem Status anhand der architektonischen Gestaltung, speziell des äußeren Erscheinungsbildes, ist bei näherer Betrachtung nur für die Zeit zwischen den sechziger Jahren des 19. Jahrhunderts und der Wende zum 20. Jahrhundert möglich. Das trifft nicht nur für Chemnitz zu, sondern ist in ganz Deutschland typisch. In Chemnitz fällt das Ende dieses Zeitabschnittes allerdings auch mit einem Personalwechsel zusammen. Das Stadtbauamt wurde im Jahre 1900 in zwei eigenständige Ämter getrennt. Stadtbaurat Eduard Hechler, seit 1880 in dieser Position, blieb bis zu seiner Pensionierung 1909 für Tiefbau und technische Betriebe der Kommune zuständig. Das Neugeschaffene Hochbauamt ging an den aus Dresden kommenden Richard Möbius über, der die Funktion bis 1925 behielt.

Eigentlich beginnt der Bau höherer Schulen mit den Gymnasien an der Reitbahnstraße (städtisch) und an der Hohen Straße (staatlich). Zu erwähnen ist aber auf jeden Fall die Bürgerschule, entworfen von Johann Traugott Heinig, die 1829-31 erbaut wurde. Da es zu dieser Zeit noch keine allgemeine Schulpflicht gab, kann man sie eigentlich zu den höheren Schulen zählen, weil sie nur von Kindern besser gestellter Schichten besucht werden konnte. Die Bezeichnung drückt diesen gehobenen Status schon aus, der auch in der Gestaltung sichtbar wird. Zwar erscheint uns das Gebäude an der Theaterstraße, das 1945 zerstört wurde, anhand der überlieferten Abbildungen aus heutiger Sicht ziemlich schlicht. Es zählt aber zu den repräsentativsten und größten Bauwerken, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der Stadt errichtet wurden.

Das Städtische Realgymnasium an der Reitbahnstraße, 1869 eröffnet, hat der Dresdner Professor Heyn entworfen. Schon hier wird der Bautyp, der die Höheren Schulen in Chemnitz für drei Jahrzehnte kennzeichnen sollte, in allen Einzelheiten deutlich. Orientiert haben sich die Architekten an der sogenannten "italienischen Renaissance". In der Praxis bedeutete dies eine freie Interpretation des Palazzo-Themas, angepasst an die Bedürfnisse der ganz anders gearteten Nutzung. Wiederkehrende Elemente sind dabei der etwas vorspringende Mittelrisalit mit dekorativem bauplastischen Schmuck und die mehr oder weniger ausgreifenden Seitenflügel. Beim Realgymnasium sind diese Flügel besonders lang ausgefallen, weshalb wohl Heyn auch die Gebäudeecken durch flache Risalite betont, was durchaus nicht allgemein üblich war.

Das Königliche Gymnasium Hohe Straße wurde 1869-72 nach Plänen von Landbaumeister Hugo Nauck gebaut. Hier finden sich die schon genannten Gestaltungselemente wieder, das Bauwerk wirkt aber durch die geringere Länge und das Fehlen von Seitenrisaliten kompakter, was der repräsentativen Wirkung allerdings keinen Abbruch tut.

So wie das Realgymnasium 1945 zerstört wurde, so sind auch zwei weitere Bildungseinrichtungen gehobenen Status´ aus dem Stadtbild verschwunden: die Höhere Töchterschule an der Annenstraße (1876/77), sowie die Höhere Knabenschule Dresdner Straße/Ziegelstraße, die 1877 durch Umbau der zuvor durch die Technischen Staatslehranstalten genutzten Baugewerkenschule geschaffen wurde. Erhalten blieb die die gleichzeitig mit Schule Annenstraße erbaute Höhere Töchterschule Obere Brückenstraße, die später als Anbau des Kaufhauses Schocken diente. Bei diesen drei Schulen handelt es sich nicht um Gymnasien, sondern um Volksschulen gehobenen Charakters. Die Töchterschule Annenstraße unterschied sich vom oben beschriebenen Schema durch den H-förmigen Grundriss, der durch die Lage des Grundstücks erklärt wird. Der schmalen Straßenfront wegen war es nicht möglich, die Mittelachse zu betonen. Somit mußte der Giebel zur Hauptseite mit entsprechend ausgebildeter Fassade werden. Gleiches trifft auf die Öffentliche Handelslehranstalt an der Markthalle zu, 1878/79 von Hugo Duderstaedt errichtet.

Stadtbaurat Eduard Hechler und sein Mitarbeiter Stadtbaumeister Eckardt bauten 1892/93 die Städtische Realschule an der Wielandstraße, die 1909 in die erste sächsische Oberrealschule umgewandelt wurde. Obwohl sie den schon erwähnten Gymnasien im Grundschema gleicht, unterscheidet sie sich von ihnen durch die unverputzten Seitenflügel. Die roten Ziegel bilden einen angenehmen Kontrast zum gelblichen Sandstein des Mittelrisalits.

Das herausragende Beispiel für den Typ der Höheren Schule in dieser Periode stellen standesgemäß die Technischen Staatslehranstalten dar. Bei dem von Prof. Alwin Gottschaldt, der selbst an der Schule unterrichtete, entworfenen Bau an der heutigen Straße der Nationen, 1878 eingeweiht, sind alle schon genannten Merkmale wiederzufinden. Allerdings ist er mit vier Etagen ein Geschoß höher als die anderen Bauten sowie mit skulpturalem und ornamentalem Schmuck deutlich reichhaltiger ausgestattet.

Um zu verstehen, warum hier vom "Bautyp Höhere Schule" die Rede ist, sollte man zum Vergleich die in der gleichen Epoche errichteten Volksschulen (in der damaligen Terminologie Bezirksschulen genannt) betrachten. Die Bezeichnungen Schulpalast und Schulkaserne sind keine nachträglich erfundenen Einordnungen, sondern waren damals in Deutschland allgemein üblich. Sie bezeichnen den Kontrast treffend. Als Beispiele für die Volksschulen können die beiden Luisenschulen, die Brühlschulen oder auch die zerstörten Schulen an der Reichenhainer/Dittesstraße (Dittesschule) und an der Heinrich-Beck-Straße dienen. Dabei ist es unwichtig, ob die Bauten im Stadtbauamt oder von privaten Architekten entworfen wurden. Es waren simple Kastenbauten nach starrem Schema, unverputzt und ohne dekorative Elemente. Eine Ausnahme bildet lediglich die aufwendiger gestaltete Schloßschule, vermutlich weil Schloßchemnitz damals noch eine eigenständige Gemeinde war.

Mit dem Amtsantritt von Richard Möbius im Jahre 1900 änderte sich die Situation grundlegend. Wenn man sich die 16 zwischen der Jahrhundertwende und dem Ersten Weltkrieg errichteten Schulen ansieht, wird die typologische Trennung zwischen Volks- und Höheren Schulen am äußeren Erscheinungsbild nicht mehr ablesbar. Auch in der generellen Herangehensweise ist eine Wende sichtbar. Ein feststehendes Schema gibt es nicht mehr. Jedes Bauwerk wird auf die speziellen Anforderungen und auch für die Eigenschaften des jeweiligen Bauplatzes entworfen. Dazu gehört vor allem die Beachtung der Himmelsrichtung, um bessere Beleuchtungsverhältnisse in den Klassenzimmern zu erzielen. Zuvor lag das Hauptaugenmerk auf der mehr oder weniger repräsentativen Ausbildung der straßenseitigen Fassade, nun treten die funktionalen Anforderungen in den Vordergrund.

Das bedeutet allerdings keinen grundlegenden Verzicht auf Dekoration. Lediglich die gravierenden Unterschiede im gestalterischen Aufwand zwischen den Klassifizierungen der Schulen werden verwischt. Dies als Zeichen einer allgemeinen Demokratisierung im wilhelminischen Reich zu deuten ist sicherlich verfehlt. Allerdings spielt wohl die Aufbruchstimmung eine Rolle, die sowohl durch ein Erstarken der organisierten Arbeiterbewegung als auch durch reformwillige bürgerliche Kreise gefördert wurde.

Das erste Schulgebäude von Möbius war die Westschule auf dem Kaßberg. Sie wurde 1902/03 als 2. Mädchenbürgerschule erbaut, später jedoch in eine Höhere Mädchenschule umgewandelt. Dieser Fakt wie auch ein Vergleich mit der nur wenige hundert Meter entfernt liegenden Höheren Mädchenbildungsanstalt Reichsstraße/Henriettenstraße verdeutlichen, daß es jetzt für den Architekten keine grundlegenden Unterschiede mehr bezüglich des Niveaus der Bildungseinrichtungen gab. Bei beiden Bauwerken steht das Bemühen im Vordergrund, die Erfordernisse des Raumprogramms mit den Eigenarten des Standortes in Einklang zu bringen. Betont werden nicht mehr die Eingangstrakte mit den Treppenhäusern. Die Akzentsetzung mittels Türmchen und verhalten dekorierten Giebelflächen läßt jetzt eher die Absicht erkennen, der freien Baumassengliederung ohne vordergründige Symmetrie ein etwas "malerisches" Aussehen zu geben, ein Prinzip, das Möbius bei seinem Neuen Rathaus auf die Spitze trieb.

Gleiches kann man von einem der wenigen Schulgebäude jener Periode, das nicht vom Stadtbauamt entworfen wurde, sagen. 1910 wurde das von Emil Ebert geschaffene Realprogymnasium (auch als Reformrealgymnasium oder Reformschule bezeichnet) an der Schloßstraße fertig gestellt. Auch hier ist die Tendenz zum pittoresken Umriss erkennbar. Im Unterschied zu den Möbiusschen Bauten, bei denen trotz aller Eklektik die Anleihen bei der deutschen Renaissance dominieren, scheint sich Ebert seine Vorbilder mehr im wuchtigen, etwas schwerfälligen Barock süddeutscher Prägung gesucht zu haben.

Gleichfalls von Ebert stammt der Entwurf für das Realgymnasium am früheren Johannisfriedhof. Er hatte 1914 den diesbezüglichen Wettbewerb gewonnen, zur Ausführung kam es allerdings wegen des Krieges nicht.

In den zwanziger Jahren setzt sich die Tendenz zur Aufhebung der architektonischen Unterschiede zwischen Volks- und Berufsschulen einerseits und Höheren Bildungseinrichtungen andererseits fort, aber auf neuer Grundlage. Jetzt entsprang diese Egalisierung tatsächlich demokratischem Gedankengut der ersten deutschen Republik, vor allem dort, wo wie in Chemnitz linke Mehrheiten an der Macht waren. Die Losung vom "Palast für das Volk" gehörte schon zum Sprachgebrauch.

So wurde mit dem Realgymnasium zwar auch im Chemnitz der Weimarer Republik eine Höhere Schule realisiert, die in architektonischer Hinsicht interessanteren Schulneubauten hatten jedoch nicht diesen gehobenen Status. Die 1924-28 gebaute, von Friedrich-Wagner Poltrock entworfene Industrieschule ist trotz ihres burgartigen Erscheinungsbildes ein rational durchkonstruiertes Schulgebäude, sie galt zur Zeit der Entstehung als größte deutsche Berufsschule. Noch moderner ist die 1930 fertig gestellte Diesterwegschule in Gablenz. Wagner-Poltrock schuf mit ihr eines der bemerkenswertesten Zeugnisse des Neuen Bauens in Chemnitz.

Emil Ebert mußte seinen Vorkriegsentwurf des Realgymnasiums gründlich umarbeiten. Nicht nur der neue Zeitgeist, auch die unmittelbare Nachbarschaft der entstehenden Industrieschule zwang dazu. Zu einer konsequent modernen Lösung konnte sich der Architekt aber nicht durchringen. Er hielt eine am Klassizismus orientierte Gestaltung mit symmetrischer Fassade und Betonung der Mittelachse für die repräsentative Bauaufgabe für angebrachter. Während der Zeit des Faschismus wurden in Chemnitz keine Schulen gebaut. In der DDR setzte sich die Politik der Egalisierung auf neuem Niveau fort, so daß selbstverständlich keine Gymnasien gebaut wurden, die sich deutlich von "normalen" Schulen unterschieden hätten.

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 Stand: 2.1     20.02.10
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