 Das Haus des Lehrers Stahlknecht auf dem Kaßberghang

Das Gerichtsgebäude

Das Gymnasium

Die Finanzbehörde
Das Gebäude der Gewerbekammer
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Die medienwirksame Legende von
der mutigen Tat des Lehrers Johann Friedrich Stahlknecht, der 1855 das erste
Haus auf dem Kaßberg errichtete, erinnert etwas an waghalsige
Pionierunternehmen zur Landerschließung in unbekannten und unwegsamen
Gegenden, ständig der Gefahr ausgesetzt, plötzlich einen Indianerpfeil im
Rücken stecken zu haben. Die Inschrift "Ich habs
gewagt", die Stahlknecht gleich vierfach auf die Fassaden seines Hauses
aufmalen ließ, entbehrt nicht einer gewissen Theatralik. Zwar
war der Kaßberg zu dieser Zeit noch der Wilde Westen der jungen
Industriemetropole, aber keinesfalls völlig unerschlossen und von wilden
Tieren durchstreift. Abgesehen von mehreren Verbindungswegen und
landwirtschaftlicher Nutzung nicht nur auf Altendorfer Flur gab es auch
schon vor der Mitte des 19. Jahrhunderts Bebauung des Areals von den Rändern
her, also entlang der Limbacher Straße im Norden und der Niclasgasse im
Süden, deren Umgebung 1844 nach Chemnitz eingemeindet wurde, nachdem sie
seit dem großen Gebietskauf von 1401 wie ein Wurmfortsatz tief in die
Besitzgrenze der Stadt hineingeragt hatte.
Für das Gebiet der späteren Hohen Straße lassen sich schon auf dem Plan, den
1828 C.A. Härtwig zeichnete, mehrere Gebäude finden. Sie stehen links des
Kappelbaches, ungefähr dort, wo sich heute die katholische Kirche befindet.
Und ein abgewinkelter Weg nahm schon damals den Verlauf des südwestlichen
Teiles der Hohen Straße vorweg. "Hinter Peters Bad" nannte sich der
Standort. Auf dem Plan des Freihern von Wagner, 1843 verfaßt, sind gegenüber
dieser frühen Bebauung allerdings keine Fortschritte festzustellen.
Also war wohl Stahlknechts Haus doch das erste Gebäude auf dem stadtseitigen
Kaßberghang? Eines der ersten auf jeden Fall und für lange Zeit sicherlich
auch das größte. Im Jahre 1850 bereits hatte der "Kunst- und Handelsgärtner"
Rötzschke (in manchen Quellen auch Retzschke geschrieben) bei der Baubehörde
Pläne für ein Haus auf dem Kaßberghang eingereicht, die Maurermeister C. T.
Müller gezeichnet hatte. Es war ein äußerst bescheidenes einstöckiges
Häuschen mit Wohn- und Schlafstube und rückseitig angebautem Gewächshaus.
1852 wurde der Plan abgeändert. Nach den neuen Zeichnungen fiel die
Wohnfläche deutlich größer aus, auch das Dachgeschoß war nun ausgebaut. Das
Quartier, dessen einzigen Schmuck die verzierten Enden der Dachbalken
darstellten, war aber trotzdem viel zu schlicht, um selbstbewußt das
Huttenzitat an die Wand zu schreiben: "Ich habs gewagt!" Rötzschke hatte es
allerdings noch vor Stahlknecht gewagt. Wann genau der Bau ausgeführt wurde,
geht aus den Akten nicht hervor, aber im Adreßbuch von 1855 ist er bereits
verzeichnet. Stahlknecht wohnte damals noch in der Lindenstraße. Sehr lange
hat das Haus aber nicht gestanden, für den Bau des Gymnasiums wurde es
weggerissen.

Im Jahr 1855 begann der Bau jenes berühmten Hauses des Bürgerschullehrers
Stahlknecht. Entworfen hatte es Baumeister Hartmann. Die Genehmigung wurde
unter der Auflage erteilt, daß der Eigentümer der Stadt gegenüber keine
Forderungen zum Ausbau der Straße erheben darf. Bei trockenem Wetter war der
vorhandene Weg allerdings auch für Fuhrwerke nutzbar. Außerdem existierten
bereits die Treppen zum Pfortensteig, wenn auch noch in einer primitiven
Form. Die Treppe wurde später, nach dem Bau des Gerichtsgebäudes, wegen des
schlechten Zustandes als "Advokatentod" verspottet. Erst 1882 wurde der
bauliche Zustand verbessert.
Das Haus befand sich auf dem Gelände, wo sich heute der Anbau des Gerichts
erhebt. Es war ein einfach aber harmonisch gestalteter zweigeschossiger Bau
in den für das damalige Chemnitz üblichen Formen des schlichten, reduzierten
Klassizismus, wie man ihn u.a. heute noch an der ehemaligen Kattundruckerei
in der Müllerstraße sehen kann. Das Haus war annähernd quaderförmig
bemessen. Unter dem kräftigen Gesims wurde ein flaches Attikageschoß
eingeschoben. Nur wenige Jahre nach dem Bau kam ein bescheideneres
Gartengebäude hinzu. Nach Stahlknechts Tod wechselte die Immobilie den
Besitzer, später wurde sie vom Staat angekauft. Hier befand sich das Baubüro
für das Justizgebäude. Danach diente es als Sitz des Bezirksbauamtes und
Wohnung für den Landbaumeister und Geheimen Baurat Julius Temper. 1927, als
die Bauarbeiten für den Anbau des Gerichtsgebäudes begannen, wurde es
weggerissen.
Zwischen dem Stahlknechtschen Gelände und dem von Gärtner Rötzschke entstand
1857 noch ein Wohngebäude für Carl Haußen. Das ebenfalls von Baumeister
Müller entworfene Haus war gleichermaßen schlicht wie das von Rötzschke,
aber zweigeschossig und mit sechs Fensterachsen.
Dieser Stand der Bebauung blieb für über ein Jahrzehnt unverändert. Zwar
wurde der Kaßberg zunehmend erschlossen, aber die Besiedlung ging zunächst
an der bereits ausgebauten Kaßbergstraße voran. Der Name Hohe Straße ist ab
1864 in den Adreßbüchern verzeichnet, allerdings mit dem Zusatz "vacat". Die
bereits vorhandenen Grundstücke wurden unter der Adresse "Am Katzberg" bzw.
"Auf dem Katzberge" geführt. Das Stocken der Besiedlung ist sicherlich
daraus zu erklären, daß es sich nach wie vor um einen unbefestigten Weg
handelte, keine Allwetter-Straße.
Das änderte sich mit dem Beginn der 1870er Jahre. Nach einem Dekret der
sächsischen Regierung vom 26. Mai 1868 war die Gründung eines Gymnasiums auf
Staatskosten in Chemnitz verfügt worden. Der Unterricht fand zunächst in der
Annaberger Straße 55 statt. Wenig später wurde von der Stadt aber ein
Grundstück auf dem Kaßberg erworben. Als Gegenleistung verpflichtete das
Land sich, die Hauptkosten für den Ausbau der Hohen Straße zu übernehmen.
Gleichzeitig wurde die Kaßbergauffahrt als direkte Straßenverbindung
zwischen der Innenstadt und dem aufblühenden neuen Stadtteil gebaut. 1908
wurde sie verbreitert und verstärkt, u.a. weil eine Straßenbahnlinie entlang
der Weststraße eingerichtet wurde. Die Hohe Straße ist einer der ganz
wenigen Chemnitzer Straßenzüge jener stürmischen Periode der
Stadtentwicklung zwischen Gründerjahren und Erstem Weltkrieg, der nicht nach
dem üblichen orthogonalen Raster angelegt wurde, welches bestmögliche
Verwertungsbedingungen für die Grundbesitzer bot. Vielmehr paßt sie sich in
ihrem Verlauf den topografischen Gegebenheiten an. Im Südwesten, nach dem
Abzweig von der Reichsstraße folgt sie in einer langgezogenen S-Kurve dem
Verlauf des Weges, der dort schon seit langem existierte. Danach nimmt sie
die Biegung des Kaßberghanges auf, schneidet die Weststraße, um schließlich
nach einer rechtwinklichen Kurve direkt in die Henriettenstraße überzugehen.
Der Grundstein für das Königliche Gymnasium, die erste höhere
Bildungsanstalt in Chemnitz, wurde am 5. Mai 1871 gelegt. Bereits am 14.
Oktober des folgenden Jahres konnte das relativ große Bauwerk der Nutzung
übergeben werden. Entworfen hatte es der Landbaumeister und Kgl.
Bezirksbaumeister Hugo Nauck. Er folgte mit der Gestaltung ganz dem Trend
der Zeit. Seit den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts wurden in
Deutschland höhere Bildungseinrichtungen als sogenannte Schulpaläste (im
Unterschied zu den Schulkasernen für die Volksschulen) angelegt. Dafür bot
sich die Neorenaissance italienischer Prägung an. Der langgezogene Bau wird
durch den symmetrisch angeordneten Mitteltrakt betont. Auf die
repräsentative Ausgestaltung dieses Bauteils richtete sich das
Hauptaugenmerk des Architekten, während die Seitenflügel zwar
wohlproportioniert, aber unaufwendig gehalten sind. Der weit aus der
Bauflucht vorgezogene Mittelrisalit ist fünfachsig angelegt, wird aber durch
die beiden leicht abgesetzten seitlichen Fensterachsen nochmals
untergliedert. Drei Rundbögen betonen den mittigen Haupteingang. Die beiden
unteren Geschosse sind rustiziert, während das Obergeschoß mit der Aula
durch hohe Rundbogenfenster mit zwischengestellten Pilastern betont wird.
Das Städtische Realgymnasium an der Reitbahnstraße, 1869 gebaut, weist
ähnliche Gestaltungsmerkmale auf. Mit dem Bau der Schule begann ein Bauboom
auf der Hohen Straße. Nur wenig später, 1875-79 wurde der ausgedehnte
Komplex der Justizgebäude errichtet. Die Pläne für das Land- und Amtsgericht
stammten wiederum von Nauck sowie von Landbaumeister Julius Edmund Temper,
der in den achtziger Jahren dann auch die Reichsbank an der Reitbahnstraße
baute.

Wie ein eigenständiges Gebäude wirkt der heutige Altbau des Gerichts an der
Hohen Straße. Man wundert sich höchstens, daß der Eingang so bescheiden
ausgebildet ist und ein Mittelrisalit ganz fehlt, wie er bei den
Neorenaissancebauten jener Zeit verbindlich war. Das liegt daran, daß wir
lediglich einen Seitenflügel des ehemals sehr ausgedehnten Gerichtskomplexes
vor uns haben, der eine Grundfläche von 25 400 Quadratmetern hatte, Es ist
merkwürdig, daß man der Innenstadt, aus deren Sicht das Bauwerk markant die
Kaßberg-Silöhouette beherrscht, einen Nebentrakt zuwandte. Das ist
sicherlich aus dem Zuschnitt des Geländes zu erklären, denn das ziemlich
starre Schema dieses Stils ließ weder eine freie Baumassengliederung, noch
die Ausbildung der Hauptfront an der Schmalseite zu. Also befand sich der
entsprechend ausgebildete Haupteingang an der Gerichtsstraße. Aus dem
viergeschossigen Mitteltrakt ist der Eingang nochmals durch das Vorziehen
der beiden benachbarten Fensterachsen hervorgehoben. Das Portal selbst war
hinter einem drei Stockwerke umfassenden Rundbogen tief eingelassen, eine
Treppe führte zu ihm hoch. Diese Gestaltung wirkte sowohl repräsentativ als
auch einschüchternd. Dies war angesichts der Funktion des Bauwerkes
sicherlich beabsichtigt. Auf dem Gesims thronte eine Justizia-Skulptur in
der Mittelachse, während die Supraporta im Eingangsgewölbe eine
Freskomalerei, Moses mit den Gesetzestafeln darstellend, schmückte. Das
gesamte Gebäude war in einer Kombination von Ziegelmauerwerk und
Sandsteineinfassungen ausgeführt. Trotz des Umfangs des alten
Gerichtskomplexes reichte sein Platzangebot später nicht mehr aus. Einige
Bereiche wie die Gerichtsvollzieherei und die Nachlaßabteilung hatte man
schon ausgelagert, die Raumnot blieb aber bestehen. So entschloß man sich
Mitte der zwanziger Jahre unseres Jahrhunderts zu einem großen Anbau, dem
das Stahlknechtsche Haus weichen mußte. Die Entwürfe stammten von
Ministerialrat Dr. Kramer und Regierungsbaurat Dutzmann, die Bauleitung lag
bei Regierungsbaurat Kießling. Auf einer Grundfläche von 1100 Quadratmetern
wurde ein Bauwerk errichtet, das u.a. Platz für elf Verhandlungssäle bietet.
Die Bauarbeiten begannen Anfang Dezember 1927, im Oktober des nächsten
Jahres war es rohbaufertig. In stilistischer Hinsicht handelt es sich um
eine Mischung sachlicher Tendenzen im Sinne des Neuen Bauens mit Art
déco-Einflüssen. Diese modischen Elemente sind vor allem bei der dekorativen
Umrahmung des Eingangs, aber z.B. auch bei den auf die Spitze gestellten
Fenstern des Verbindungsganges zum Altbau sichtbar. Der Klinkerbau ist
L-förmig angelegt, folgt damit einerseits der gegebenen Fluchtlinie, nimmt
aber auch den geschwungenen Lauf der Hohen Straße auf. Das Treppenhaus ist
diagonal zwischen die beiden Flügel gestellt, auch dies eine Reminiszenz an
expressionistische Architektur. Die Rücksetzung des obersten Geschosses ist
allerdings eher eine klassizistische Anleihe. Nahe dem nördlichen Ende der
Hohen Straße hatte sich eine weiter Behörde angesiedelt. Hier entstand von
1902 bis 1904 das Königliche Kreissteueramt und die Königliche
Bezirkssteuereinnahme nach Plänen von Bau- und Finanzrat Canzler. Auch
dieses Gebäude wirkt nicht nur durch die große Baumasse, sondern ist
repräsentativ gestaltet. Hier wurde aber, ganz dem Geschmack der Zeit
entsprechend, auf die deutsche Renaissace zurückgegriffen. Bei einzelnen
Dekorationselementen findet sich auch Jugendstil. Mehrere Giebel gliedern
die Fassade, an der Stirnseite sind sie noch mit Erkern betont worden. Das
symmetrisch plazierte Türmchen auf dem hohen Dach ist heute nicht mehr
vorhanden. Die Mauerflächen des Steueramtes sind verputzt worden, doch wie
beim Gericht wird auch hier mit Sandstein zur Gliederung und Einfassung
gearbeitet, während das Sockelgeschoß aus Flöhaer Quarzporphyr errichtet
wurde.

Die Konzentration von Gymnasium, Gericht und Steuerbehörde entlang der Hohen
Straße geht einher mit ähnlichen Prozessen in der benachbarten Innenstadt,
die zur sogenannten Citybildung gehören. Ähnlich wie die Königstraße wird
auch der Kaßberghang zu erweiterten City, allerdings ohne die
Verkehrsverdichtung, die ansonsten die Innenstadt kennzeichnet. Auffällig
ist, daß es sich zunächst außschließlich um staatliche Einrichtungen
handelte, die an der Hohen Straße entstanden. Die Kommune siedelte ihre
Institutionen lieber in der Altstadt oder am Theaterplatz an. Zwar auch
nicht kommunal, aber doch lokal organisiert, war allerdings die
Gewerbekammer, deren Gebäude 1912 gebaut wurde. Der Bau war von der Kammer
1910 beschlossen worden. Von verschiedenen infrage kommenden Bauplätzen
wurde die Hohe Straße 8 ausgewählt. Man lobte einen Wettbewerb aus, zu
dessen Jury u.a. Professor Gottschaldt und Stadtbaurat Möbius gehörten. Von
den 33 eingereichten Plänen erhielten drei von Chemnitzer Architekten
stammende die Preise. Außedem hatte aber auch Baumeister Ernst Heidrich drei
Entwürfe eingereicht, die außer Konkurrenz liefen, da Heidrich selbst
Vorsitzender der Gewerbekammer war. Sein unter dem Kennwort "Konzentrisch"
laufender Entwurf war es aber, der schließlich zur Ausführung kam.
1911 wurde der Bau begonnen, am 12. Juni 1912 konnte er eingeweiht werden.
Laut Beschreibung in der Festschrift stellt er sich in "die Bestimmung des
Gebäudes charakterisierenden Formen" dar. Wie sehen aber die typischen
Formen einer Gewerbekammer aus? Es ist eigentlich eine große Villa,
architektonisch ganz den Konventionen der Vorkriegszeit entsprechend. Die
Materialwahl ist ähnlich wie bei der Steuerbehörde: Sockel aus Quarzporphyr,
Putzflächen und Sandsteindekorationen bei den Geschossen. Aber die Stilistik
läßt sich nicht mehr an historischen Vorbildern festmachen, die Elemente
werden frei und eklektisch kombiniert. Wie das Wettbewerbskennwort
"Konzentrisch" schon ausdrückt, folgt die Baumassengliederung keiner festen
Schematik. Für Abbildungen des Gebäudes wird stets ein Standpunkt gewählt,
der die Nordostecke im Vordergrund zeigt. Hinter den hohen, durch schmale
Lisenen zusammengefaßten Fenstern befinden sich Sitzungs- bzw. Prüfungssaal,
also die Haupträume. .
Die Hohe Straße wurde ab der Gründerzeit aber nicht nur für
Verwaltungsbauten reserviert, es entstanden auch weiterhin Wohnhäuser. Und
wie man aus den Adreßbüchern ablesen kann, hatte sich der "wilde Westen" zu
einer bevorzugten Adresse von Begüterten entwickelt. Das Adreßbuch von 1900
gibt als Bewohner eine ganze Reihe von Professoren, Schuldirektoren,
Kaufleuten, Lehrern und Anwälten an. Auch Architekten wohnten hier, u.a. die
Landbaumeister Temper und Canzler. In der Zeit um den Ersten Weltkrieg
wohnte die Bildhauerin Hildegard Rudert im Haus Ecke Weststraße, etwas
später wird der Kunstmaler Carl Lange als Bewohner des gegenüberliegenden
Grundstücks direkt an der Kaßbergauffahrt erwähnt. Die dort befindliche
Bronzeskulptur einer Jägerin stammt allerdings von Professor Harry Liebmann,
der in Bad Homburg lebte. Die auf Initiative des Chemnitzer
Verschönerungsvereins angekaufte Plastik wurde 1913 aufgestellt. Sie fiel
dem Metallhunger des faschistischen Regimes während des Zweiten Weltkrieges
zum Opfer. Die Hohe Straße war wie der ganze kaßberg ein bevorzugtes
Wohngebiet. Ein früherer Vorzug der Lage war aber seit der Gründerzeit ins
Gegenteil umgeschlagen: der schöne Ausblick. Zwischen Kaßberghang und
Innenstadt hatte sich ein Gürtel ausgedehnter Fabrikanlagen geschoben. Vor
allem die Hallen und Schlote der Hartmannwerke und der Germania (vormals J.
S. Schwalbe) verstellten den Blick auf die City und verschmutzten die Luft.
Im nördlichen Teil der Hohen Straße überwog Villenbebauung, ab der
Einmündung der Gerichtsstraße dominierten mehrstöckige Mietshäuser. Jenes
Eckhaus gegenüber dem Gericht, in dem heute die Musikschule untergebracht
ist, beherbergte neben Wohnungen die Superindendentur, das Pfarramt und die
Bücherei der evangelischen St. Pauli-Gemeinde. Ihr Gemeindesaal befand sich
im Hof von Nr. 11. Es war ein seltsamer eingeschossiger Bau mit hohen
Rundbogenfenstern.
Typische Mietshäuser waren auch die Nummern 2 und 4, ein Doppelhaus, das dem
Spekulanten Hugo Schreiter gehörte. Es war 1896 durch den Bauunternehmer
Carl Wiesel entworfen und errichtet worden als ein zweigeschossiger Bau, mit
Neorenaissance-Giebeln und entsprechender Ornamentik relativ aufwendig
ausgestaltet. Auf der Rückseite, zum Kappelbach hin, war in der
Originalzeichnung eine Terrasse mit üppiger, weitausschwingender Freitreppe
vorgesehen. Sie wurde dann schlichter ausgeführt. Die Eingänge des
Ziegelbaus mit verputzten Ansichten lagen seitlich. Das Haus wurde im Kriege
zerstört und die Ruine 1951 beräumt.
Ein ungewöhnlicher Bau wurde 1934 schräg gegenüber errichtet, dort wo sich
heute das Gemeindehaus von St. Johannes Nepomuk befindet. Der Ingenieur
Heinrich Ulrich ließ sich ein Holzhaus durch Christoph & Unmack errichten.
Das war jene in Niesky ansässige Firma, die als erste in Deutschland
serienreife Fertigteilhäuser anbot, die u.a. durch den jungen Konrad
Wachsmann mitentwickelt wurden. Hier entstand also vermutlich das erste
Chemnitzer Fertigteilhaus. Die Baupolizei hatte Vorbehalte, aber da das Haus
größtenteils durch Gebüsch verdeckt wurde, gab man die Genehmigung. Es
handelte sich um eine Holzskelett-Konstruktion, die mit sogenannten
C.u.U.-Platten verkleidet wurde. Diese waren aus Papiermasse, Zement,
Asbestfasern und chemischen Zusätzen hergestellt. Auch dieses Gebäude wurde
1945 zerstört.
Die Kriegseinwirkungen trafen vor allem den südwestlichen Teil der Hohen
Straße bis hin zum Gericht. Die Straße war zur Zeit des Faschismus in
Mutschmannstraße umbenannt worden, später hieß sie Dr. Richard-Sorge-Straße.
Seit 1991 hat sie ihren alten Namen zurück.
Zu DDR-Zeiten wurde hier wenig gebaut. Einige der Ruinenlücken wurden in den
fünfziger und sechziger Jahren mit den üblichen, standardisierten
AWG-Wohnblöcken gefüllt. Ein Kindergarten in 2Mp-Plattenbauweise entstand in
den Siebzigern anstelle der Schreiter-Häuser.
Ein interessanter Neubau konnte erst wieder im Dezember 1992 eingeweiht
werden. Das Gemeindehaus der römisch-katholischen Kirche St. Johannes
Nepomuk war der erste Nachwende-Neubau in Chemnitz. Die Kirche selbst wirkt
zwar ins Straßenbild der Hohen Straße hinein (wie bis 1938 die Synagoge),
steht aber an der Reichsstraße. Sie wurde 1953-55 durch Willy Schönefeld
errichtet, welcher vor allem durch das Camman-Hochhaus und die Astra-Werke
bekannt geworden war. Das außerdem vorgesehene Gemeindehaus mußte wie auch
der Glockenturm 37 Jahre auf die Verwirklichung warten, da 1955 ein
Weiterbau untersagt worden war. Schließlich wurden beide aber nach neuen
Plänen ausgeführt.
Damit endet zunächst die Baugeschichte der Hohen Straße. Das
Buchheim-Museum, welches im Kultur-Karree Kaßberg stehen sollte, ist Utopie
geblieben. Die frühere Steuerbehörde, zu DDR-Zeiten Bezirksbehörde der
Staatssicherheit, soll nach dem Auszug der Neuen Sächsischen Galerie zu
einer Schule umgebaut werden. Welche Neubauten es in Zukunft an der Hohen
Straße geben wird, ist gegenwärtig noch nicht absehbar.
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